„Es ist eine Schande.“ Mit dieser schlichten Feststellung beginnt der Roman „Ein Mann liest Zeitung“. Sein Autor Justin Steinfeld (1886-1970) muss heute zu den fast vergessenen und verkannten Autoren des 20. Jahrhunderts gezählt werden.
1886 als Sohn jüdischer Eltern in Kiel geboren, lebte Steinfeld seit dem sechsten Lebensjahr in Hamburg, vornehmlich am Grindel, dem damaligen Zentrum jüdischen Lebens in der Hansestadt. Es war der Wunsch der Familie, dass er einen ordentlichen Beruf ergreifen sollte, in Hamburg oft ein Synonym für Kaufmann. Doch zog es Steinfeld nicht zu den „Pfeffersäcken“. Seinen Interessen folgend, wurde er Journalist, Theater- und Literaturkritiker.
1926 konnte er die Hamburger „Allgemeine Künstler-Zeitung erwerben, der er 1927 den Titel „Die Tribüne“ gab, eine, wie es im Untertitel hieß, „Wochenschrift für alle Interessen unseres geistigen Lebens“. Die Zeitung war zugleich Mitteilungsblatt des „Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller“, so dass er zahlreiche Hamburger Autoren für Beiträge gewinnen konnte. Mit Hans Henny Jahnn und Heinz Liepmann war Steinfeld befreundet.
Neben seiner publizistischen Tätigkeit engagierte er sich auch politisch, vor allem in Organisationen im Umfeld der KPD. Er zählte zu den Mitbegründern des „Kollektivs Hamburger Schauspieler“, schrieb für diese Schauspielergruppe zeitkritische Revuen, die für Schlagzeilen in der Presse sorgten und Proteste der Hamburger Nationalsozialisten auf sich zogen.
Nach dem sogenannten Altonaer Blutsonntag vom 17.7.1932, in dessen Folge zahlreiche Menschen bei Schießereien getötet wurden, leitete er den überparteilichen Untersuchungsausschuss, zu dem auch Erich Lüth zählte. Es ist nicht ohne Pikanterie, dass die damalige Politische Polizei dem Ausschuss eine allzu große jüdische Zusammensetzung vorwarf!
Jüdische Herkunft und politisches Engagement waren offenbar Gründe genug, Justin Steinfeld am 31.3.1933, dem Vorabend des „Judenboykotts“, aus dem Altonaer Stadttheater zu werfen und in übler antisemitischer Weise zu diffamieren. Nach kurzer „Schutzhaft“ im berüchtigten „Kolafu“, dem Konzentrationslager Fuhlsbüttel, gelang ihm die Flucht nach Prag. Dort arbeitete er als Auslands- und Theaterredakteur der Wochenzeitung „Die Wahrheit“. Die Schriftstellerin Lenka Reinerová (1916-2008) erinnerte Justin Steinfeld; „dieser rothaarige, fast immer erregte und Erregung hervorrufende Mann“ hatte es ihrer meiner Meinung nach besser getroffen als viele seiner Schicksalsgenossen. Untätigkeit wäre seine Sache nicht gewesen. Steinfeld schrieb gleichzeitig für die „Arbeiter-Illustrierte-Zeitung“, „Das Blaue Heft“ und „Die Neue Weltbühne“.
Die Gestapo wie die Deutsche Gesandtschaft observierten genauestens alle publizistischen Aktivitäten Steinfelds im Prager Exil. Am 8. Juni 1935 wurde ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Auf der Ausbürgerungsliste stand sein Name neben denen von Bertolt Brecht, Max Hodann, Heinz Liepmann, Erika Mann, Walter Mehring und Erich Ollenhauer. Trotz aller Nöte des Exils erinnerte sich Steinfeld gern an seine Jahre in Prag; in einem Brief an Hans Henny Jahnn schrieb er im Januar 1946: „In Prag konnte ich mir einen guten und schönen Kreis schaffen. Ich habe dort viel mehr Anerkennung, Freundschaft und Güte gefunden, als jemals in meiner Vaterstadt Hamburg.“
Nach der Okkupation Prags durch deutsche Truppen im März 1939 musste Steinfeld untertauchen. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und ihrem Kind floh er unter dramatischen Umständen über Polen nach England. Nach Kriegsausbruch wurde Steinfeld als enemy alien interniert, zuerst in England, dann in Australien. Nach einjährigem Zwangsaufenthalt in einem Wüstenlager kehrte er 1941 nach England zurück, wo er bis zu seinem Tod in äußerst bescheidenen Verhältnissen lebte.
Sein im englischen Exil beendeter Roman erschien erst 14 Jahre nach seinem Tod. Die Presse reagierte positiv bis überschwänglich; der Rezensent des „Börsenblatts für den Deutschen Buchhandel“ zählte Steinfelds Buch „zu den besten Romanen des Exils“. Nachdenklich urteilte Walter Boehlich im Nachrichtenmagazin „DER SPIEGEL“: „Lesen müssten es gleichfalls diejenigen, die sich immer mit der Gewalt arrangiert haben und sich nicht vorstellen können, das auch sie einmal ein Asyl brauchen könnten. Sie werden es nicht lesen. Dann also wenigstens die, die Erinnerung wollen.“
Im August 2020 veröffentlichte der Schöffling Verlag, Frankfurt am Main, Justin Steinfelds zeitkritischen Roman „Ein Mann liest Zeitung“ in einer ungekürzten, illustrierten und kommentierten Neuausgabe.
Wilfried Weinke