Deutsch-französischer Journalistenpreis für arte-Dokumentation »Stille Retter«

Der deutsch-französische Journalistenpreis in der Kategorie »Video« geht in diesem Jahr an das von der Weichmann-Stiftung geförderte Dokumentarfilmprojekt »Stille Retter« von Regisseur Christian Frey und der Buch- und Filmautorin Susanne Wittek. Die arte/NDR-Dokumentation der Gebrüder Beetz Filmproduktion erzählt, wie jüdische Kinder während des Nationalsozialismus in Frankreich vor der Wehrmacht versteckt und beschützt wurden und lässt Zeitzeugen und Nachkommen zu Wort kommen.

Weichmann-Stiftung: Herzlichen Glückwunsch zu der Auszeichnung. Wie waren die Reaktionen darauf in Frankreich und Deutschland?

Susanne Wittek: Vielen Dank! Es kamen zahllose Glückwünsche aus Frankreich und Deutschland, außerdem Anfragen aus beiden Ländern, den Film im Rahmen von Festivals oder Workshops zu zeigen und zu diskutieren. Vor allem freue ich mich über das Interesse vieler Lehrer, die den Film mit ihren Schülern behandeln wollen: In ihren Augen ist der Film wegen der vorsichtigen Illustration der Zeitzeugenberichte durch Graphic Novels und historische Filmaufnahmen für ein junges Publikum besonders geeignet.

In »Stille Retter« beschäftigen Sie sich mit der Geschichte von Juden, die im besetzten Frankreich von Einheimischen vor den Nationalsozialisten versteckt wurden. Wie ist es zu der Idee gekommen?

Seit 2012 fasziniert und beschäftigt mich das literarische Werk Georges-Arthur Goldschmidts. Unter anderem hatte ich das Glück, im November 2014 im KörberForum ein Podiumsgespräch mit ihm zu führen. In seinen Büchern hat er wiederholt das Trauma der Trennung von seinen Eltern geschildert, die ihn 1938 als Zehnjährigen zum Schutz vor antisemitischer Verfolgung aus Hamburg ins Exil schickten. Immer wieder hat Goldschmidt auch das Netzwerk von französischen Helferinnen und Helfern beschrieben, denen er sein Überleben verdankt, weil sie ihn während der deutschen Besatzung Frankreichs von 1940 bis 1944 beschützten und versteckten. Als ich feststellte, dass Nachfahren seiner Retter noch lebten, lag es nahe, mit ihrer Hilfe die Geschichte seines Überlebens filmisch zu dokumentieren.

Gab es noch weitere Auslöser?

Entscheidend bestärkt wurde ich durch die 2013 erschienene Studie des französischen Historikers Jacques Semelin Persécutions et entraides dans la France occupée. Comment 75 % des juifs en France ont échappé à la mort. Darin untersucht Semelin, welchen besonderen Umständen es zu verdanken ist, dass 75% aller Juden, die sich bei Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 in Frankreich aufhielten, bei der Befreiung des Landes 1944 am Leben waren (etwa 220.000 Menschen) – die höchste Überlebensquote aller vollständig von deutschen Truppen besetzten Länder. In Semelins Buch kommen einige hochbetagte Zeitzeugen zu Wort, und so entstand die Idee, neben Goldschmidts Schicksal einige weitere zu dokumentieren, die exemplarisch für so viele stehen. Ich bin unseren Zeitzeugen unendlich dankbar, dass sie uns an ihren teilweise sehr schmerzhaften Erinnerungen haben teilhaben lassen.

Welche Bedeutung hatte Frankreich als Exilland für Flüchtlinge aus Deutschland während der NS-Diktatur?

Für Menschen, die wegen ihrer jüdischen Herkunft, ihrer politischen Gegnerschaft zum NS-Regime oder aus anderen Gründen von den Nationalsozialisten bedroht wurden und aus Deutschland flohen, war Frankreich das wichtigste Exilland. Hier suchten und fanden ab 1933 ungefähr 100.000 deutsche Flüchtlinge Schutz. Später flohen sie, wenn irgend möglich, weiter, denn mit Beginn des Krieges zwischen beiden Ländern im September 1939 wurden sie als „feindliche Ausländer“ angesehen und in Lagern interniert. Ihre Lage verschlimmerte sich zusätzlich, als sie nach der raschen Kapitulation Frankreichs und seiner Teilung in mehrere Zonen im Juni 1940 auch im Exilland von den nationalsozialistischen Besatzern und der kollaborierenden Vichy-Regierung verfolgt wurden. Vichy erließ eigene antisemitische Gesetze und beteiligte sich aktiv an der Verhaftung und Deportation von etwa 80.000 ausländischen, staatenlosen und französischen Juden in die Vernichtungslager im Osten Europas. Umso bemerkenswerter ist es, dass Teile der französischen Zivilgesellschaft so viele als Juden verfolgte Menschen aufnahmen und vor der Ermordung bewahrten.

Und eine besondere Bedeutung dabei hat der Ort Dieulefit gespielt, der auch im Mittelpunkt des Films steht. Warum?

Dieulefit (Departement Drôme, Region Auvergne-Rhône-Alpes) hat zwischen dem Spanischen Bürgerkrieg und der Befreiung Frankreichs im August 1944 enorm viele Flüchtlinge aufgenommen: Kämpfer des Spanischen Bürgerkriegs, Résistance-Mitglieder und Vichy-Oppositionelle, aber vor allem Menschen, die als Juden verfolgt wurden, ganze Familien, Kinder ohne Eltern, Künstler und Intellektuelle. In diesem abgelegenen Dorf lebten vor dem Krieg etwa 3.000 Einheimische – Protestanten und Katholiken –, und in ihrer Mitte überstanden mehr als 1.000 Verfolgte unversehrt die deutsche Besatzung. Nicht ein Einziger, der hierher geflüchtet war, wurde verraten, verhaftet oder deportiert, im Gegenteil: die Sekretärin des Bürgermeisters stellte ihnen falsche Papiere und Lebensmittelkarten aus. Ein ganzes Dorf hielt zusammen und spielte das doppelte Spiel stillschweigend mit. Auch in einigen anderen abgeschiedenen Regionen Frankreichs boten ganze Orte Verfolgten sicheren Unterschlupf, aber Dieulefit ragt mit der Zahl der Überlebenden heraus.

Ihr Film zeichnet sich dadurch aus, dass er die Gespräche mit Zeitzeugen und Nachkommen in den Mittelpunkt rückt. Wie präsent ist das Thema heute noch in Frankreich?

Mein Eindruck ist, dass vor allem das Trauma, mit Hitler-Deutschland kollaboriert und sich mitschuldig gemacht zu haben, in Frankreich präsent ist, wenn auch – ähnlich wie in Deutschland – nur in Teilen der Gesellschaft. Zwar hat der große Holocaust-Forscher Serge Klarsfeld, dessen Vater aus Nizza deportiert und in Auschwitz ermordet wurde, schon seit Ende der 70er Jahre immer wieder darauf hingewiesen, dass die große Mehrheit der als Juden Verfolgten in Frankreich überlebte; aber dennoch ist diese Seite der Besatzungszeit erst zögernd zur Kenntnis genommen und wissenschaftlich lange nicht erforscht worden. Mit Jacques Semelins Buch, das in Frankreich einige Kontroversen ausgelöst hat, ist das Thema deutlich stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt.

Kann der Film auch einen Beitrag zur Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich leisten?

Deutschland und Frankreich haben in den letzten Jahrzehnten eine gemeinsame transnationale Erinnerungskultur entwickelt, man denke nur an die symbolischen Handlungen hochrangiger Politiker an Orten von kriegerischen Geschehen, deren gedacht wird. Aber auch im alltäglichen Umgang von geschichtsbewussten Franzosen und Deutschen hat die geteilte Erinnerung der ehemaligen Kontrahenten weitgehend ausgedient. Mehr und mehr setzt sich eine transnationale Deutung und ein gemeinsames Gedenken der Opfer auf beiden Seiten durch. In diesem Kontext sehe ich unseren Film, und ich bin sehr froh, dass er offensichtlich auch in Frankreich so aufgefasst wird.

Von Susanne Wittek ist im Auftrag der Weichmann-Stiftung der Band »Absprung über Niemandsland. Hamburger Exil-Biografien im 20. Jahrhundert« erschienen.

Susanne Wittek (Foto: Inga Sommer)